Viktoria Modesta: Die bionische Frau

Mit zwanzig lies sie sich ihr linkes Bein amputieren. Freiwillig. Für Viktoria Modesta war es die größte Befreiung und der Beginn einer großen Karriere. Heute wird die gebürtige Lettin als weltweit erster amputierter Popstar und „bionic woman“ gefeiert.

Zwei lange schlanke Beine schreiten lasziv und bestimmt entlang eines gläsernen Bodens. Ein Bein steckt in einem High Heel aus Lack. Das andere in einer schwarzen, spitzen, zackenähnlichen Prothese. Ein wuchtiger Schritt, der Boden wird durch die Spitze der Prothese durchbohrt und splittert.

So beginnt das Musikvideo „Born Risky“ von Viktoria Modesta, dem ersten bionischen Popstar, Model und Multimediakünstlerin. Das Markenzeichen der Londonerin ist ihre Beinprothese, die sie gekonnt künstlerisch in Szene setzt. Mal als Leuchtröhre, mal als Strass besetzten Eiszapfen. Heute ist ihr fehlendes Bein der Grundstein ihrer Karriere als Model und Sängerin.

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Mit zwanzig Jahren ließ sich Viktoria freiwillig das linke Bein amputieren. Heute macht sie als „bionic artist“ Karriere. © Luis Banks

Der Weg zur gefeierten Künstlerin war jedoch steinig und begann mit Komplikationen in frühester Kindheit.

Viktoria Modesta kam 1987 in Lettland mit Geburtsschäden an ihrem linken Unterschenkel auf die Welt, die sie bis in ihre Jugend begleiten sollten. Die ersten sechs Jahre verbrachte sie hauptsächlich in Krankenhäusern. „Ich habe mich damals in Fantasiewelten geflüchtet, um mit der Situation fertig zu werden“, erinnert sich die heute 29-Jährige.

Modesta wuchs in der ehemaligen Sowjetrepublik auf. Körperliche Behinderung war zur dieser Zeit ein gesellschaftliches Stigma. Selbst die Ärzte rieten ihrer Mutter nach der Geburt, Viktoria in ein Kinderheim abzugeben. Ihre Umgebung gab ihr das Gefühl, sich ihrem Schicksal zu ergeben zu müssen: „Alle glaubten zu wissen, wer man ist und wie man einmal enden wird. Ich sollte damit leben, dass ich einen ‚Defekt’ habe.“ Doch das konnte und wollte das Model nicht.

Der Körper als Werkzeug

1999 immigrierte die damals 12-Jährige mit ihren Eltern nach London. Sie stürzte sich in die alternative Klubszene und probierte sich erstmals in den verschiedenen Subkulturen als Musikerin und Model aus. „Ich fand endlich einen Ort, an dem ich mich frei und kreativ ausdrücken konnte, wo alles aus mir heraussprühen konnte, was bisher unterdrückt wurde.“ Doch ihr krankes Bein erinnerte sie immer wieder an ihre körperlichen Grenzen und bremste die aufstrebende Künstlerin in ihrer Karriere. Gehen und Laufen fielen schwer. An High Heels war kaum zu denken. Mit Fünfzehn überkam Viktoria das Bedürfnis nach einer drastischen Veränderung: „Ich wollte die absolute Kontrolle über meinen Körper haben. Bis dahin hat mich mein Körper beherrscht. Da war mir klar, dass ich das nur erreichen kann, wenn ich mein krankes Bein loswerde.“ Bis es zur Amputation kam vergingen noch fünf weitere Jahre und 15 quälende Operationen, die den Unterschenkel hätten reparieren sollen. Mit Zwanzig hat sich endlich ein Arzt gefunden, der ihrem Wunsch, freiwillig ein Bein zu entnehmen, nachging.

„Als ich nach der OP aufgewacht bin und das Laken zur Seite schmiss und dort nichts mehr liegen sah, kein Bein, das war wie Weihnachten“ erzählt Modesta. „Bis dahin war ich ein Opfer meiner Umstände.“

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Die bionische Frau: Viktoria Modesta. © IMG Models

„Bionic Model“

Für andere Jugendliche in ihrem Alter wäre so ein ‚Einschnitt’ wohl ein traumatisches Erlebnis und der Verlust der eigenen Identität. Für Viktoria Modesta war das „eine Heilung“. Es war eine Chance, erstmals Herrin ihres Körpers und ihrer Gesundheit zu sein. Ihr Zugang ist irritierend pragmatisch. ‚Was nicht passt, wird passend gemacht’ könnte ihr Motto lauten: „Ich wollte meinen Körper reparieren, um ihn funktioneller zu machen“, erklärt Modesta, „Der Körper ist für mich ein Werkzeug, der mir hilft, Dinge zu machen, die mir Spaß machen“.

Dieses neue Verhältnis zu Körper, Funktionalität und Technologie drückt sich immer mehr in ihrer Arbeit aus. Der einstige Makel und Bremse wird nun zum Stilelement ihres künstlerischen Schaffens. Statt das fehlende Bein in eine optisch authentische Beinprothese zu stecken, macht sie daraus ein künstlerisches Konzept und rückt es in den Mittelpunkt ihrer Performance.

Es folgten Kooperationen mit Modedesignern wie Vivienne Westwood, sowie unzählige Features in Magazinen wie Harpers Bazaar Brazil, Elle, Instyle Russia, oder Marie Claire.

„Behinderung findet im Kopf statt“

Ein Wendepunkt ihrer Karriere war der Auftritt in der Abschlusszeremonie der Paraolympics 2012, zusammen mit der britischen Band Coldplay. Als „Schneekönigin“ performte sie mit einer Swarovski-Steinen besetzten Glitzerprothese und setzte ein Zeichen für einen neuen Umgang mit körperlicher Behinderung und Sexualität. „Plötzlich war ich Teil einer globalen Bewegung. Es wurde endlich über dieses Thema gesprochen“.

Modesta wurde nicht nur Teil einer weltweiten Diskussion über körperliche Behinderung, sondern auch zum Rolemodel für Betroffene. Als Mensch mit Behinderung habe Modesta sich selbst jedoch nie gesehen und meint weiter, dass physische Beeinträchtigungen bloß eine Geisteshaltung von Menschen seien: „Behinderungen gibt es deswegen, weil Menschen sie als solche sehen. Es ist die Perspektive auf die Dinge.“

Mit ihrer Rolle als Vorbild oder Sprachrohr für alle Behinderte dieser Welt zu stehen, tut sie sich schwer, denn „ich kann ja nicht sagen, wie es ist im Rollstuhl zu sitzen.“ Dem Bionic Model geht es darum, Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung nicht mehr als solche zu sehen. Die Wissenschaft werde ihren Teil dazu beitragen, ist sie sich sicher und in 50 Jahren werde es völlig normal sein, Menschen mit künstlichen Körperteilen natürlich zu begegnen.

Die 29-Jährige kokettiert natürlich bewusst mit ihrer Körperlichen Beschaffenheit. Ob sie als „das einbeinige Model und Sängerin“ nicht riskiere, in eine Schublade gesteckt zu werden? Nun, Schubladen sind ihr ziemlich egal, sagt sie. Der Verdacht läge nahe, aber, so Modesta, sie habe ihr ganzes Leben lang mit Kategorisierungen zu kämpfen. In ihrer Kindheit war sie ‚das Kind mit dem kaputten Bein‘ und jetzt ist sie für viele das Model mit der Glitzerprothese. Ein gewisses Risiko gehöre eben dazu, meint sie: „Mein Leben, so wie ich es führte, hat mich sicher dazu gebracht, einige Dinge zu riskieren.“

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In Wien wurde Viktoria mit dem Haute Couture Inspiration Award 2015 geehrt. Hier mit Künstler Christian Ludwig Attersee und Designerin Katarina Kiss. © Alexander Tuma

Risiko als Lebensmotto

So entstand auch das Video „Born risky“, mit dem sie 2014 ihren Durchbruch feierte und für weltweites Aufsehen sorgte. Eine körperliche Behinderung in den Fokus gerückt, hoch ästhetisch ausgeleuchtet, durchgestylt und erotisch inszeniert. „I’m a prototype“ schleudert Modesta im weißen Body in die Kamera. ‚Friss und stirb’ lautet die Message. Man hat sie so zu akzeptieren wie sie ist. Ohne linken Unterschenkel.

Nun ist die Kunstfigur Viktoria Modesta als „Das einbeinige Model“ verpackt in neon-glitzernder Beinprothese und in der Ästhetik einer Lady Gaga leicht verdaulich, weil hübsch anzusehen. Die Solidarität mit behinderten Menschen ist in so einer Verpackung schnell gegeben, wobei vielleicht der erotische Kontext mit diesem halben Bein im Geheimen etwas irritieren kann. Dürfen Behinderte erotisch dargestellt werden? Ist das nicht diskriminierend, oder so? – Das könnte unter vorgehaltener Hand durchaus fallen.

Geblendet von tollen Outfits und topmotiviert für den Kampf gegen Diskriminierung wird der Zuschauer im Video in Minute 2:48 von der Realität abgewatscht und auf die Probe gestellt. Da sitzt sie also nun nackt, bloß vom pechschwarzen langen Haar bedeckt. Ohne Prothese. Nur der Beinstumpf. Dieser Rest vom linken Bein, der weggeschnitten wurde, wo Blut floss, Wunden verheilten. Das passt so gar nicht zum super Wonder-Woman-Vamp-Outfit. Das muss man erst mal schlucken, diese physische Realität. Doch genau an dieser Stelle zeigen sich die Ehrlichkeit der Inszenierung und die Authentizität der Künstlerin und des Menschen Viktoria Modesta.

So viel schonungslose Realität verträgt nicht jeder und stellt für die Sängerin sicherlich ein berufliches Risiko dar. Aber wer kann dieses besser tragen als Viktoria Modesta. Denn „some of us were born to take risks“ heisst es bereits in ihrem Video.

Als Plattform hat sie sich nichts Geringeres als den Mainstream-Pop ausgesucht, auf dem sich langfristig gesehen ja doch immer wieder genormte Schönheitsideale bewähren. Ob dieser sich auch auf ein Mädchen mit Beinprothese einlässt? Ein Risiko wäre es wert.

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„Kevin Underwood“ Chefredakteurin Ivana Cucujkic-Panic traf die sympathische Künstlerin in Wien. © Courage PR

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